Bildmaterial: Stadia, Google
Mit der Ankündigung von Stadia hat Google die Gaming-Welt in dieser Woche komplett auf den Kopf gestellt. So fühlt es sich jedenfalls an, wenn man durch die Gazetten liest. „Die Zukunft der Videospiele“, „pure Magie“, „das Ende der Videospielwelt, wie wir sie kennen“ – das sind nur ein paar wenige Schlagworte. Die Leser lassen sich anstecken. Klar, „unausweichlich“ sei das. „Früher oder später“ würde sich das durchsetzen. Da gibt es gar keinen Zweifel. Klassische Konsolen? Mindestens mittelfristig am Ende. Die Präsentation von Google ging direkt ins Blut über, die Phrasen sitzen. Was hat Google denn da angestellt? Was ist das denn für eine wundersame Erfindung?
Ist es endlich da, das heilige Netflix der Videospiele?
Stadia ist ein Streaming-Dienst für Videospiele. Mal ganz nüchtern betrachtet: Das gibt es seit etwa 10 Jahren und seit etwa 5 Jahren gibt es in der Sache keine für die Masse großartig spürbaren Fortschritte. Die ersten Dienste sind schon wieder vom Markt verschwunden, andere machen Rückschritte.
PlayStation Now gab einst die durchaus attraktive Perspektive, Spiele wie The Last of Us II* auf einem SmartTV spielen zu können, ohne dass man eine PS4 besitzt. Davon ist schon lange keine Rede mehr. Zu Beginn war PlayStation Now mit Samsung-TV-Modellen und Sony-Bravia-TVs kompatibel. Diese Services wurden schon 2017 eingestellt. Von PlayStation Now hört man eigentlich nur, wenn dort neue PS2-Klassiker an den Start gehen oder sich das Preismodell ändert.
Google CEO Sundar Pichai stellt Stadia vor. Die Infrastruktur kann Google schon mal vorweisen. (Bild: Screenshot, Präsentation von Stadia bei der GDC 2019)
Stadia ist der bisher vielversprechendste Vorstoß…
Natürlich stecken hinter Stadia ganz andere Ressourcen und Möglichkeiten, keine Frage. Aber mehr als ein Versprechen, um das gerade ziemlich viel Hype herrscht, ist Stadia bisher nicht. Die unausweichliche und nahe Zukunft gleich gar nicht. Es wird funktionieren, wenn es launcht, soviel darf man wohl erwarten.
Darüber hinaus gibt es viele Fragezeichen. Konsole? Braucht man nicht mehr? Bis dahin ist es ein weiter, weiter Weg. Keiner, dessen Ende man heute schon sehen würde. Die zwei größten Fragen sind: Videospiele? Preis? Das muss man gar nicht näher ausführen. Damit steht und fällt die Attraktivität von Stadia für etwa 100 Millionen Menschen, die potentiell das meiste Geld für Stadia ausgeben würden.
Klar, mit Stadia will Google viel mehr Menschen erreichen als nur diese Konsolenbesitzer. Potentiell mehrere Milliarden. Was für ein Markt! Was für Möglichkeiten für Spiele-Entwickler und vor allem Publisher! Ziehen wir von dieser Unmenge an Endkunden mal jene ab, die gar nicht die technische Infrastruktur für Stadia besitzen. Nur am Rande: In China sind Google-Dienste übrigens nach wie vor blockiert; hier hat Tech-Riese Tencent quasi parallel zu Stadia mit „Start“ einen eigenen Cloud-Gaming-Service angekündigt. Ziehen wir auch jene ab, denen die technische Affinität fehlt.
Google hat sich alle Mühe gegeben, den Dienst als sehr intuitiv darzustellen. Aber bis die Generation meiner Eltern in einer Größenordnung Stadia erfassen kann, werde ich wahrscheinlich selbst dieser Generation angehören. Zur Verteidigung meiner Eltern: Sie nutzen eBay, Amazon, PayPal und haben Smartphones. Aber was Netflix ist, wie das funktioniert, warum das mehr zu bieten hat als klassisches Fernsehen und warum sich so ein Abo lohnt? Und dabei sind sie für Serien und Filme gewiss zugänglicher als für Videospiele.
Ja, der Markt der Gelegenheitsspieler ist riesig. Aber schon jetzt herrscht ein Überangebot. Gelegenheitsspieler finden unzählige kostenlose Möglichkeiten der Unterhaltung in ihren AppStores. Sicher wird Stadia am Ende mehr bieten als Schwergewichte wie Assassin’s Creed; aber dass ausgerechnet ein Candy-Crush-Gelegenheitsspieler zum „Early-Adopter“ von Stadia wird? Das sehe ich auch nicht.
Stadia soll eine Plattform für jeden sein. Für wirklich jeden. „And when we say for everyone, we really mean it.“ – Sundar Pichai (Bild: Screenshot, Präsentation von Stadia bei der GDC 2019)
Selbst unter der Annahme, dass Microsoft bei der kommenden E3 die Disc-lose Xbox vorstellt und den derzeit unter dem Namen xCloud gehandelten Streaming-Dienst, vielleicht unter Zunahme von Game Pass. Und dass vielleicht sogar Sony einen neuen Streaming-Vorstoß unternimmt. Das sind nur Optionen und sie werden es noch eine ganze Weile bleiben. Bei Sony setzt man seit Generationen auf eine stationäre Hardware, die sich nicht neu erfindet, sondern nur technisch besser wird. Das ist das Versprechen an einen Markt, der gerne „größer als Hollywood“ beschrieben wird. Und damit fährt man ausgezeichnet, wie das aktuelle Modell der PlayStation zeigt, das zielsicher auf eine Hardwarebasis von 100 Millionen Geräten zusteuert.
…aber viel ändern wird sich in den nächsten Jahren nicht
Stadia ist auf jeden Fall ein riesiger Schritt in Richtung Game-Streaming und das ist natürlich zu begrüßen. Googles Ressourcen lassen auf einen Dienst hoffen, der sich vielleicht lange Zeit nicht selbst tragen wird, aber attraktiv genug ist, um trotzdem zu wachsen. Bestimmt wird sich einiges ändern in der Gaming-Welt, wenn – ja wenn – es denn mal eines Tages so weit ist.
Aber das ist weder die nahe Zukunft, noch unausweichlich und schon gar kein Ende für die Videospielwelt, wie wir sie kennen. Ich möchte auch mal gewagt sein, auch angesichts einer E3, die einige Überraschungen mit sich bringen könnte: In den nächsten Jahren wird sich wenig ändern. Schon gar nicht, wenn man selbst nichts ändern will.
Desktop, Laptops, TVs, Smartphones, Tablets – Stadia läuft überall. „This new generation of gaming is not a box.“ – Phil Harrison, Google Vice President. (Bild: Screenshot, Präsentation von Stadia bei der GDC 2019)
Und das ist keine Abwehrreaktion eines Core-Gamers, sondern einfach nur ein Gegenentwurf zu den vielen Artikeln und herrschenden Meinungen, die mit ein wenig Feinschliff mitunter auch aus der PR-Abteilung von Google stammen könnten. Der Retailmarkt wird schon seit Jahren zu Grabe getragen, aber die Verbände müssen da schon fleißig die Steam-Zahlen mit einberechnen, damit das überhaupt einigermaßen glaubhaft rüberkommen kann. Denn eigentlich gibt es mehr physische Spiele denn je für die, die sie wollen.
Was ist eigentlich aus der guten, alten Singleplayer-Erfahrung geworden? Seit Jahren bedroht von Games as a Service, Free-to-play und diesen teuflischen Mobile-Games. Die besten Singleplayer-Erfahrungen, die die Geschichte der Videospiele hervorgebracht hat, sind ein paar Wochen alt. Manche nur ein paar Tage. Und einige, mutmaßlich noch bessere, erscheinen noch in diesem Jahr. Und das, obwohl sogar Nintendo (!) schon Mobile-Games entwickelt. Der Indie-Markt wird immer größer und vielfältiger. Und hey, es gibt noch DVDs. Wer kauft noch DVDs?
Blühende Zukunftsmalerei und Visionen in allen Ehren. Vielleicht wird Stadia als erster Streaming-Dienst ein relevanter Teil dieser spannenden Gamingwelt. Vielleicht wird Stadia eines Tages sogar das vielzitierte „Netflix der Videospiele“? Es ist jedenfalls der vielversprechendste Versuch. Und noch ein langer Weg bis dahin. TLDR: Lasst die Kirche im Dorf, das ist mir alles ein bisschen zu viel Hype um zu viele Unbekannte.